Auf diese Fragen gibt Wolfgang Mayer, 1950 im Vogtland geboren,
vier Jahrzehnte lang vorwiegend als Lehrer in Thüringen tätig, Antworten mit
einem 730-Seiten-Band, gegliedert in 5 Kapitel:
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Die DDR im Zeichen innerer Zerrissenheit, Unruhen und wachsenden Widerstands im Lande
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Flucht-, Ausreisebewegung und Erstarken der Opposition als Ergebnisse des allgemeinen Verfalls der Legitimität der DDR
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Die politische Verfolgung Ausreisewilliger
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Botschaftsbesetzungen als konsequenteste Form der Bekundung des Ausreisewillens
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Die Eigendynamik der Ausreisebewegung und Fall der Mauer
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Die Abschnitte werden detailliert und mit äußerster
Sorgfalt behandelt, was allein die 1.650 Fußnoten unterstreichen.
Weil die Kapitel getrennt gelesen werden können, eignet sich
das Buch sogar als Nachschlagewerk. Mayer wählt durchgängig
eine verständliche Sprache. Nahezu alle Sachverhalte werden
mit einem 200 Seiten umfassenden Dokumententeil, der sich überwiegend
aus bisher unveröffentlichtem Aktenmaterial der Gauck/Birthler-Behörde
zusammensetzt, untermauert.
Der Autor durchforstete hierzu in vier Jahren mehr als 20.000 Seiten
Stasi-Akten, die damals vorwiegend von Generalmajor Nieblings mächtiger
Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) angelegt wurden. Zudem wird
ein tiefer Einblick sowohl in die Struktur als auch Arbeitsweise
relevanter MfS-Abteilungen gewährt. Als sei es eine Selbstverständlichkeit,
werden bei Mayer die Klarnamen genannt.
Besondere Abkürzungen und Begriffe sind im Anlagenteil, der
auch etliche informative Organigramme, Zahlenübersichten und
Graphiken enthält, erklärt. Ein Namensverzeichnis macht
das Buch beim Finden bestimmter Zeitzeugen zusätzlich interessant.
Mayer gilt als Insider. Im Herbst 1988, also ein Jahr vor dem Zusammenbruch
des SED-Regimes, besetzte er mit weiteren 17 Thüringern die
dänische Botschaft in Ostberlin. In einer einmaligen Nacht-
und Nebelaktion lieferte der völlig überforderte Botschafter
die Flüchtlinge an die Staatssicherheit aus und die "Delinquenten"
erhielten mehrjährige Haftstrafen. In Dänemark löste
diese Aktion eine Regierungskrise aus. Wenig später wurde diese
Angelegenheit ein Fall für die Internationale Menschenrechtskommission
in Straßburg.
Der Autor dokumentiert zahlreiche weitere gelungene und gescheiterte
Fluchtaktionen - von den Tunnelaktionen der 60er Jahre über
Auslands- und Ostseefluchten bis hin zu eben jenen in diplomatische
Missionen. Dabei erfährt u. a. auch der Mut einzelner Fluchthelfer
eine verdiente Würdigung. Es wird nachgewiesen, welche bedeutende
Rolle die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin
für die Ausreisewilligen insgesamt spielte; ebenso, wie das
Besetzen der deutschen Botschaften in Budapest, Warschau sowie Prag
den Wendeherbst 1989 herbeizwang.
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"Die effizienteste Form des Dokumentierens von Ausreisebegehren
war", so Mayer, "nach Unterzeichnung der Schlussakte
von Helsinki die Festsetzung in diplomatischen Missionen westlicher
Staaten". Diese Festsetzungen verliefen allesamt friedlich.
Nach Gandhi'schem Vorbild ist gewaltfreier Widerstand der restriktiven
Politik eines totalitären Regimes entgegengesetzt worden.
Einer Diktatur, die unerbittlich gegen ihre Kritiker vorgegangen
ist. Doch sowohl die politische als auch schwerste strafrechtliche
Verfolgung von Flüchtlingen, Ausreisewilligen und Botschaftsbesetzern sind, wie entsprechende Statistiken im Buch zeigen, erfolglos
geblieben. Die Maßnahmen der SED-Führung, die das Ministerium
für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit den regionalen Politikern
umzusetzen hatten, waren allenfalls geeignet, Wirkungen, nicht aber
deren Ursachen zu bekämpfen oder gar zu beseitigen.
"Genützt hat alles nichts. Vielmehr fügte es
die Geschichte, dass das Desaster des DDR-Sozialismus nicht nur
durch die Massendemonstrationen im Herbst 1989 herbeigerufen wurde,
sondern die Flucht- und Ausreisebewegung unaufhaltsam wesentlich
dazu beigetragen hat. 1989 steigerte sie sich in einem Umfang und
in Formen, wie sie bis dahin kaum vorstellbar waren ...".
Letztlich haben Republikflucht und Ausreise aus der DDR den Zusammenbruch
des DDR-Sozialismus genauso mit herbeigeführt wie die Massendemonstrationen
in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Herbst 1989.
"Wenn 3,7 Millionen Menschen den Weg nach Westen gesucht
und sich auf ihre Weise gegen den Staat das Recht ertrotzt haben,
über sich selbst zu bestimmen, so war dies auch eine Form der
Systemauseinandersetzung", führte Fricke am 30.3.1999
in einem Vortrag in Tutzing aus.
Auch Arnold Vaatz, der sächsische Minister, den nach eigenem
Bekunden selbst jahrelang Ausreisegedanken plagten, bestätigt
dies:
"Jenen, denen Freiheit wichtiger war als Geld und Gut, Heimat
und die Nähe zu Freunden ist viel zu verdanken. Ohne sie wäre
uns die DDR erhalten geblieben." (Der Tagesspiegel, 30.9.1999)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das kritische Buch
gerade noch zur rechten Zeit erschienen ist. In einer Zeit, in der
20 Stasi-Generäle und Oberste "mit Sicherheit" die
(Zeit-) Geschichte zu klittern versuchen. Die Rechtfertigungen,
bagatellisierenden Darstellungen und Schwindeleien der Neiber und
Niebling, Wolf und Rataizick werden mit Mayers Buch nicht bloß
entlarvt, sondern gewissermaßen platt gemacht.
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Flucht und Ausreise
Anita Tykve Verlag
Berlin 2002, 1. Aufl.
Paperback, 728 Seiten
incl. 200 S. Aktenteil
ISBN 3-925434-97-6
EUR 24,90
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Flucht und Ausreise
Anita Tykve Verlag
Berlin 2002, 2. Aufl.
Harteinband, 728 Seiten
incl. 200 S. Aktenteil
ISBN 3-925434-97-6
EUR 29,90
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Dänen von Sinnen
Anita Tykve Verlag
Böblingen 1991
Paperback, 516 Seiten
zahlreiche Dokumente
ISBN 3-925434-50-X
EUR 14,90
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