Im
Westen machten sie damals Schlagzeilen: sieben Männer,
sechs Frauen und fünf Kinder aus Ilmenau, die
in Ost-Berlin am 9. September 1988 in der Botschaft
des Königreichs Dänemark erschienen, um
hier für ihre Ausreise aus dem ungeliebten Staat
zu demonstrieren.
Der Zeitpunkt war genau kalkuliert: Eine offizielle
DDR-Visite des dänischen Ministerpräsidenten
Poul Schlüter stand bevor. Als sich die Botschaftsbesetzer"
weigerten, das Missionsgebäude wieder zu verlassen,
ehe ihnen die Ausreise zugesichert wurde, veranlaßte
der dänische Botschafter die Räumung durch
DDR Sicherungskräfte. In einer Nachtund-Nebel-Aktion
wurden die Eindringlinge gegen 2.15 Uhr in das Stasi-Gefängnis
Magdalenenstraße in Lichtenberg verbracht, ohne
daß sie sich widersetzt hätten. Die Kinder
kamen in ein Heim. Die Staatssicherheit, in der Furcht
vor Nachahmern, wollte ein drakonisches Exempel statuieren.
Daß
es dazu nicht kam, war eine Folge der Furore, die
der dänische Botschafter mit seiner rigorosen
Vorgehensweise in westlichen Medien auslöste.
Entgegen ursprünglichen Absichten wurden die
männlichen Akteure am 12. Oktober 1988 vom Stadtbezirksgericht
Berlin-Lichtenberg nur" zu Bewährungsstrafen
wegen Hausfriedensbruchs" und Beeinträchtigung
staatlicher Tätigkeit" verurteilt und auf
freien Fuß gesetzt. Fünf Monate später
durften sie mit ihren Familien legal aus der DDR ausreisen.
Das Verfahren gegen die tatbeteiligten"
Frauen wurde sogar eingestellt. Internationale Proteste
und Honeckers außenpolitische Interessenlage
hatten die glimpfliche Lösung möglich gemacht.
Rädelsführer" der Ilmenauer Botschaftsbesetzer
war der Autor des vorliegenden Buches, Jahrgang 1950,
Lehrer von Beruf. Wolfgang Mayer hatte sich jahrelang
um eine Ausreise aus der DDR bemüht. Zermürbt
von den Schikanen, denen er als Übersiedlungsantragsteller"
ausgesetzt gewesen war, hatte er sich mit Gleichgesinnten
zur Aktion entschlossen. Botschaftsbesetzung als Widerstand.
Nun setzt er sich wissenschaftlich mit der Wechselwirkung
von Flucht und Ausreise einerseits, Destabilisierung
der DDR andererseits auseinander.
Mayer
hat seine Arbeit breit angelegt. Nach einem gerafften
Überblick über die innere Entwicklung des
SED-Staates unter besonderer Berücksichtigung
von Opposition und Widerstand bietet er im zweiten
Teil eine faktenreiche Analyse der Fluchtund Ausreisebewegung
aus der DDR. Die politische Verfolgung Ausreisewilliger
durch die Staatssicherheit wird im folgenden Teil
thematisiert. Mit besonderer Ausführlichkeit
behandelt der Autor danach Botschaftsbesetzungen,
die er als die konsequenteste Form der Bekundung
des Ausreisewillens" begreift, wobei er den eigenen
Fall als exemplarisch herausarbeitet. Dem fünften
Teil über die Eigendynamik der Ausreisebewegung
und ihre desaströsen Auswirkungen auf die Herrschaft
der SED schließt sich ein knappes Fazit an:
Die Ausreisebewegung als spontane Massenbewegung
belegt, wie in der DDR in objektiver Weise Ohnmacht
zur Macht und Macht zur Ohnmacht führte."
In
der Tat sah sich die Staatssicherheit der in den siebziger
Jahren aufkommenden Ausreisebewegung zunehmend hilflos
gegenüber. 1975 war in Gestalt der Zentralen
Koordinierungsgruppe im MfS mit Koordinierungsgruppen
auf Bezirksebene eigens eine fast zweihundert hauptamtliche
Mitarbeiter starke Diensteinheit zur Bekämpfung
von: Republikflucht", Fluchthilfe und legaler
Übersiedlung geschaffen worden. Vergebens. Die
Abstimmung mit den Füßen" ließ
sich nicht unterbinden.
Der
Autor definiert die Bemühungen um Ausreise als
oppositionelles Verhalten in der DDR. Dem ist ebenso
zuzustimmen wie seiner Kernthese, daß die Ausreisebewegung
wesentlich zum Zusammenbruch des Regimes beigetragen
hat. Indes formuliert er politisch stark wertend und
vielfach polemisch.
Mayers pointierte Frontstellung gegen linksorientierte
Bürgerrechtler" in der ehemaligen DDR, denen
er pauschal den Willen zur deutschen Einheit abspricht,
scheint von großer Abstraktheit. Denn auch dem
Autor ist die Erkenntnis nicht fremd, daß die
Wiedervereinigungsfrage in dem Augenblick auf die
Tagesordnung der Geschichte rückte, als die Bevölkerung
drüben" ihr demokratisches Selbstbestimmungsrecht
errungen hatte.
Die ausreisewilligen Bürger, die ihr Begehren
zunehmend öffentlich einforderten, haben die
friedliche Revolution der DDR im Herbst '89 genauso
provoziert wie die von Bürgerrechtlern entscheidend
mitinitiierten Demonstrationen in Leipzig, Dresden
oder OstBerlin. Das zählt mehr als manche ihrer
zeitweiligen Illusionen über die Reformierbarkeit
der DDR.
KARL WILHELM FRICKE