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BONN
Unabhängige Tageszeitung
G 3201 - 113. Jahrgang, Nr. 34 312, 3. Dezember 2002
POLITISCHES
BUCH
DIE
ANDERE BÜRGERRECHTSBEWEGUNG
DDR - Wolfgang Mayer analysiert Flucht und Ausreise
aus dem zweiten deutschen Staat
Von Hans-Joachim Föller
September
1988: Die entscheidende Wende im Leben von Wolfgang
Mayer ereignet sich ein Jahr vor dem nahenden Ende
der DDR. Um die Ausreise zu erzwingen, besetzen er
und 17 andere Thüringer die dänische Botschaft
in Ost-Berlin. Der Botschafter liefert die Flüchtlinge
der Staatssicherheit aus. Die Besetzer werden zu zwei
bis drei Jahren Haft verurteilt, aber einen Monat
spater aufgrund von Protesten westlicher Medien wieder
entlassen. Ein halbes Jahr danach erfolgt die Ausweisung
Mayers in die Bundesrepublik.
14
Jahre danach legt der inzwischen in Erfurt lebende
Mayer eine politikwissenschaftliche Untersuchung von
Botschaftsbesetzungen als Form des Widerstands
gegen die politische Verfolgung in der DDR" vor.
Seine auch fur Laien verständlich geschriebene
Dissertation mit dem Titel Flucht und Ausreise"
begründet die These, daß sich die Revolutionsgeschichte
von 1989 viel zu sehr auf die konzentriert habe, die
in der DDR geblieben sind. Dabei weiß er sich
einig mit bekannten Politikwissenschaftlern und Autoren
wie Bernd Eisenfeld, Karl Wilhelm Fricke oder Roland
Jahn, die selbst einmal Dissidenten gewesen sind.
Mayer
sieht in der Ausreisebewegung ebenfalls eine Bürgerrechtsbewegung.
Schließlich hatten diese Menschen oppositionelle
Verhaltensweisen in einem Ausmaß praktiziert,
das ausreichte, um die herrschenden realsozialistischen
Machtverhaltnisse ins Wanken zu bringen.
Zu
den besonders lesenswerten Teilen des informativen
Buches gehören die Abschnitte zur politischen
Verfolgung Ausreisewilliger, die Schilderung der Botschaftsbesetzungen
als konsequenteste Form der Bekundung des Ausreisewillens
und der Bericht uber die Eigendynamik der Ausreisebewegung,
die den Fall der Mauer beforderte. Der Autor dokumentiert
zahlreiche gelungene und gescheiterte Fluchtaktionen
- von den Tunnelgrabungen der 60er Jahre uber Auslands-
und Ostseefluchten bis hin zu eben jenen in diplomatische
Missionen. Deutlich wird dabei, welche Risiken die
Fluchthelfer auf sich nahmen und welchen Mut solche
Taten erforderten. Es wird gezeigt, welche bedeutende
Rolle die Standige Vertretung der Bundesrepublik in
Ost-Berlin fur die Ausreisewilligen insgesamt spielte
und auf welche Weise die Besetzungen der bundesdeutschen
Botschaften in Budapest, Warschau sowie Prag den Wendeherbst
1989 herbeizwangen.
Foto
(DPA): Nur ein kleiner Schritt trennt heute Ost- und
Westberlin. ________________________________________________________________________
Wolfgang
Mayer: Flucht und Ausreise. Anita Tykve Verlag,
Berlin, 2002. 728 Seiten, 24,90 Euro